Die Überlinger
Wirtin Anna Reutlinger,
Gastronomin der Kultkneipe „Anusch's
Pub“ starb mit 75 Jahren.
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Fröhlich,
humorvoll und mit Verständnis
für jeden – so kannte man Wirtin
Anusch. Hier in der Fastnacht,
irgendwann Anfang der 1990er.
Links Wilma, die damals hinterm
Tresen aushalf und sich als
Büttenrednerin präsentierte.
Heute ist „Anusch's Pub“ auch
durch den „Närrischen
Männerkaffee“ bekannt, den ihr
Sohn Michael dort vor einigen
Jahren etablierte. |
Eine Kneipe. „Anusch's Pub“. Eine
Überlinger Eckkneipe. Klein, niedrig und
Vorhänge,
die den Einblick von außen schwer
machen, wenn drinnen der Bär tobt. Das
Lokal, vor dem uns unsere Eltern gewarnt
haben. Damals, Ende der 1970er Jahre.
Heute, 31 Jahre später,
geht es da am Wochenende noch immer
total ab. Mit dabei die Töchter und
Söhne
der ganz jungen Stammgäste von damals.
Das Jahr 1979. „We dont't need no
education“: Wir brauchen keine
Erziehung. Pink Floyds Hymne aus „The
Wall“. Morgens, nachdem die Mutter ihre
Nase in die Klamotten vom Vortag
gesteckt hatte, stellte sie nur streng
fest: „Ihr seid in der Bierklause
gewesen“. Ja, das waren wir.
„Hunck's Bierklause“. So hieß die
kleine Eckkneipe in der Hafenstraße, als
die Anusch sie 1979 übernahm. Weil die
attraktive blonde Frau Reutlinger, die
keiner so nannte, weil sie eben die
Anusch war, auch so gar nichts mit dem
rübezahlbärigen Glatzkopf Hunck am Hut
hatte, nannte sie ihre Kneipe erst mal
Bierklause. Ohne Hunck. An irgendeinem
Abend drei Jahre später leuchtete
plötzlich ein grüner Neonschriftzug im
Fenster: „Anusch's Pub“.
Sohn Micha, damals gerade 18, hatte
die Idee zur Leuchtreklame gehabt. Weil
im Lokal jeden Abend Darts gespielt
wurde. Richtiges Darts. Auf die
Sisalborstenscheibe mit Wurfpfeilen aus
Wolfram-Nickel-Legierung. Selbst aus
England importiert. Denn Darts, den
Präzisionssport am Tresen, kannte man
damals nur von der britischen Insel. So
läge „Pub“ als Name nahe, meinte Micha.
Also Anusch's Pub. Tatsächlich war sie
sofort der Ankerpunkt für alle Gäste.
Uli, der Mann ihres Lebens, den sie mit
gerade 20 geheiratet hatte, half zwar
mit. Aber es drehte sich doch alles um
sie. Uli blieb im Hintergrund und sorgte
für die Musik. Mainstream gab's nur bei
vollem Lokal. Lieber legte er Jazz auf.
Django Reinhard oder Häns'che Weiss.
Bireli Lagrene, den Elsässer Sinto,
hörte man hier lange, bevor Biolek ihn
bekannt machte. Zigeunerjazz. Wenn dann
ein Gast seinen Musikgeschmack
anzweifelte, war der Uli schon mal
unwirsch. Und Anusch besänftigte.
Kennengelernt hatten sich die Anusch,
die im Krieg aus dem Sudetenland
geflüchtet war, und ihr künstlerisch
hoch begabter Mann in Stuttgart. Seine
Karriere führte sie ins Elsaß, nach
Muhlhouse. Als Grafiker arbeitete er
unter anderem für Dargaud („Asterix“) in
Paris. Als er Ende der 1950-er Jahre für
Disney nach Südamerika sollte, war
Anusch gerade mit Petra schwanger, ihrer
zweiten Tochter, und sagte Nein. Die
Familie zog nach Südfrankreich und
schließlich nach Korsika. Uli wollte
unter der Mittelmeersonne Freiberufler
sein. Gleichzeitig betrieben sie einen
Campingplatz. 1974 drängte es sie zurück
nach Deutschland und Anusch in die
Gastronomie. Professionelle Gastlichkeit
war für sie Kindheitserinnerung. Zum
elterlichen Bauernhof hatte eine
Gastwirtschaft gehört.
Die älteste Tochter, Tina, geboren
1953 und längst mit einem Korsen
verheiratet, blieb auf der Insel. Auch
die jüngere Petra, Jahrgang 1955 wollte
in Frankreich bleiben. Nur der erst
zehnjährige Micha kam mit und machte
später das Abitur an der französischen
Schule in Friedrichshafen.

Anusch arbeitete im „Faulen Pelz“,
später im „Zoller-Quick“ gegenüber dem
Kaufhaus „Morath“. Als die Reutlingers
1979 dann die Bierklause pachteten,
sollte es nur für fünf Jahre sein.
Es wurde ein Leben. Mit der gut
gehenden Kneipe an der Ecke der Hafen-
mit der Schulstraße, das Haus kauften
die Reutlingers auch irgendwann,
sicherte Anusch die Existenz der
Familie. Und der Raum mit der Theke in
der Mitte, an der man von allen vier
Seiten sitzen oder stehen kann, wurde
tatsächlich zum „Pub“, wie man ihn aus
England kennt. Hier strich sich der
Ingenieur die Krawatte glatt, während
dem Zimmermann neben ihm ein paar
Hobelspäne aus den Haaren fielen.
Ein Gymnasiast mit Liebeskummer?
Anusch tröstet. Ein selbstständiger
Handwerksmeister mit leerem
Auftragsbuch? Anusch baut auf. Ein
Lehrer, der seine aufmüpfige Klasse
verflucht? Ganz nebenbei gibt es von
Anusch Lebensweisheiten über Toleranz
und Gelassenheit. Immer mit ihrem
unverwüstlichen, feinsinnigen Humor
gewürzt. Für sie zählt nur die Person,
die sie im Augenblick gegenüber hat. Mit
Herkunft, dicker Börse oder Titel kann
man ihr nicht imponieren.
Die Wirtin aus
dem Bilderbuch wird getragen von ihrer
Liebe zu den Menschen: Als einmal einer,
der zwei Halbe getrunken hatte, durch
das kleine Toilettenfenster abhaut und
ein Fetzen seiner Jeans am Rahmen
zurückbleibt, da hat Anusch nur eine
Sorge: „Jetzt hat sich der arme Kerl die
teure Hose zerrissen, hätte er doch was
gesagt, ich hätte ihm die zwei Bier doch
geschenkt.“
Bei Anusch war jeder willkommen. Fast
jeder. Als die rechtsradikale Szene in
den 1990-ern versuchte, sich geschlossen
im Lokal häuslich einzurichten, hing
bald ein Plakat an der Wand, das ihr
bestimmt sagte, sie sei hier nicht
erwünscht und solle woanders hin.
2003 zog sich Anusch ganz vom Tresen
zurück. Eine Lungenkrankheit machte ihr
Monate lang zu schaffen, doch sie
rappelte sich mit der ihr eigenen
Energie wieder hoch. Uli starb, kurz
bevor die beiden am 2. August 2005
hätten Goldene Hochzeit feiern können.
Seit Sohn Micha den Pub macht,
unterstützt von Schwester Petra, ist das
Publikum jünger geworden. Vielleicht
empfinden das aber auch nur die Älteren
so, die früher die Jungen waren und
immer noch kommen. Dass „Anusch's“ nach
über 30 Jahren immer noch funktioniert,
dafür sorgte sie selbst im Hintergrund
weiter mit. Kümmert sich um Buchhaltung
und Bestellungen. Sie blieb ein
Arbeitstier bis zuletzt. Trotz der
angeschlagenen Gesundheit. Das Ende kam
dennoch plötzlich.
Als am vorvergangenen Wochenende unten
wieder mal die übliche Samstagsstimmung
war,
da schlief sie oben in der Wohnung ein.
Ganz tief. Gestorben ist sie dann in
derselben Nacht vom 20. auf den 21.
November im Krankenhaus, wohin der
Notarzt sie noch hatte bringen lassen.
Vorbei an den Fenstern ihrer Kneipe. Im
Fenster flackerte ein grüner Schriftzug:
„Anusch's Pub“.
Er wird weiterleuchten.
„Anusch bleibt unvergessen, solange
es Menschen gibt, die sie kannten“, sagt
ein alter Stammgast. „Denn man lernt im
Leben nur wenige Menschen mit einem so
großen Herz kennen – mit ihr stirbt auch
ein Stück der eigenen Vergangenheit und
Jugend.“
Artikel: Südkurier, Martin Baur,
2.12.10
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Quelle
